Unser ganz normales Leben mit Gendefekt

Unser ganz normales Leben mit Gendefekt

„Im Leben kommt es manchmal anders als man es sich wünscht. Doch als wir bei unserer heute fünfjährigen Tochter feststellten, dass sie einen seltenen Gendefekt hat, zog es uns den kompletten Boden unter den Füßen weg.” Gastautorin Laura erzählt von der Geschichte und dem Leben mit ihrer Tochter, die mit einem Gendefekt geboren wurde. Laura möchte über das Beckwith-Wiedemann-Syndrom aufklären und allen Betroffenen Mut machen!

Am 27. Juli 2014 war es soweit. Nach einer Schwangerschaft mit ganz normalen Höhen und Tiefen kam nach einer langen Geburt endlich unser erstes gemeinsames Kind auf die Welt. Als ich nach knapp 26 Stunden unsere Kleinen in den Armen hielt, wusste ich nicht, wie mir geschieht. Dieser Moment war magisch. Sie wog 3400 Gramm und war 52 cm groß, unser kleines Wunder mit dunkelbraunen Haaren. Unsere ersten Tage zusammen waren durchzogen von sehr vielen Glücksgefühlen, Brustschmerzen und Stillproblemen, Schlaflosigkeit und absoluter Entzückung. Themen, die sicherlich alle neuen Eltern kennen.

„Guck mal, da stimmt doch etwas nicht!“

An einem ganz normalen Tag circa zwei Wochen nach der Geburt lag unsere Tochter vor meinem Mann Patrick auf der Wickelkommode, als ich seine Worte hörte: „Komm und guck mal, da stimmt doch etwas nicht!“ Er verglich ihren linken Arm mit ihrem rechten und stellte fest, dass dort deutlich mehr Babyspeck zu sehen war. Auch die Beine waren unterschiedlich in ihrer Breite. Erst einmal kontaktierten wir die Hebamme, die von dem Phänomen noch nie gehört hatte und uns beruhigte. Das ungute Gefühl in uns blieb. Und wir taten das, was man an dieser Stelle niemals tun sollte: Wir fragten das Internet. Was wir fanden, war erschreckend. Denn: Die Symptomatik des halbseitigen Großwachsums deutete eindeutig auf einen Gendefekt hin, von dem wir noch nie etwas gehört hatten, dem Beckwith-Wiedemann-Syndrom.

Meine Gedanken: Unsere Tochter wird an Krebs sterben

Es war wie in einem schlechten Film. Ich vereinbarte erst einmal einen Termin bei unserem Kinderarzt. Dieser bestätigte mir die völlig normale, altersgerechte Entwicklung unserer Tochter und sagte uns, dass er in seiner langen Karriere noch nie einen solchen Fall gesehen habe. Es könnte sein, dass sich das Phänomen verwächst. Er schickte uns sicherheitshalber zum Kinderkardiologen und zur Radiologie, um Gehirnhälften und innere Organe schallen zu lassen. Vor jedem Arzttermin versank ich in einem Meer aus Tränen und auch meinen Mann sah ich zu dieser Zeit das erste Mal weinend.

Denn eines der vielen negativen Aspekte des Gendefektes und der Hemihyperthrophie (der Begriff dafür, dass eine Körperhälfte verstärkt wächst) ist es, dass durch die vermehrte Zellteilung, die auch den Großwachstum der einen Körperhälfte verursacht, ein erhöhtes Risiko auf bösartige Nieren- und Lebertumore gibt. Ich kann kaum in Worte fassen, was in mir vorging, als ich diese Tatsache erfuhr. Die absolute Verlustangst, gepaart mit einem dicken Kloß in meinem Hals, der immer wieder hoch kam, sobald ich an das Thema dachte und nicht abgelenkt war. Ich saß jeden Abend weinend auf dem Sofa und habe wirklich gedacht, mein kleines Mädchen würde einen bösartigen Tumor bekommen und sterben.

Mein Mann ist mit dem Thema anders umgegangen, als ich. Ich habe versucht, so viele Informationen über BWS zu finden, wie möglich, habe mit dem einzigen spezialisierten Genetiker in Deutschland und der einzigen Forscherin in Philadelphia, USA gesprochen, habe alles dokumentiert und mich in Foren mit Betroffenen ausgetauscht. Mein Mann ist mit all dem sehr sachlich umgegangen und hat wenig an sich herankommen lassen. Sein Optimismus und das Credo, dass er sich sicher ist, dass unsere Tochter gesund ist und bleibt, hat mir besonders vor den Ultraschalluntersuchungen sehr viel Halt und Sicherheit gegeben.

Unsere elterliche Intuition hat uns nicht getäuscht

Trotz den Versuchen des Kinderarztes, uns Hoffnung zu machen, blieben die deutlich größeren Körperteile auf der linken Körperhälfte unserer Tochter. Nach der U4 wurden wir zur genetischen Beratung geschickt. Dort hieß es ebenfalls, dass man einen solchen Fall bislang noch nie gesehen hätte und wir uns keine allzu große Sorgen machen sollten.

Dennoch wurden Speichel-, Haut- und Blutproben genommen und dokumentiert, dass Paula einige der weiteren Anzeichen für BWS (Beckwith-Wiedemann-Syndrom) hatte: Einen Nabelbruch, kleine Kerben im Ohrläppchen und eine relativ große Zunge. Zudem hatte ich die Worte der Hebamme noch im Kopf, die bei der Geburt dabei war: „Die Nabelschnur war auffällig lang und die Plazenta groß.“ Ebenfalls Indizien für BWS – was uns aber erst hinterher auffiel.

Klarheit und der Blick nach vorne

Die Diagnose kam letztlich erst vier Monate später, da es sehr schwer ist, BWS bzw. die Genmutation festzustellen. Für uns war die Tatsache, dass wir nun wussten, mit was wir es zu tun haben, fast schon eine Erleichterung. So konnten wir dem Kind einen Namen geben. Wir gingen (und gehen nach wie vor) alle drei Monate zum Ultraschall der inneren Organe in die Radiologie der hiesigen Uniklinik. Zusätzlich mussten alle drei Monate über das Blut die Werte eines Tumormarkers ermittelt werden. Diese Termine waren für mich besonders einschneidend, da das Blut aus dem Handrücken entnommen werden musste, was für unsere Tochter eine absolute Quälerei war.

Unsere Tochter hat glücklicherweise relativ mild ausgeprägte Symptome des Beckwith-Wiedemann-Syndroms, dennoch wird die „Hemi“ (ungleiche Körperhälfte) sich nie verwachsen. Was mir in all der Zeit sehr geholfen hat, war und ist es, offen mit dem Thema umzugehen. Für mich war es die beste Therapie mit vielen Menschen darüber zu sprechen und aufzuklären. Wenn all diese Informationen, ob aus dem Internet oder von Ärzten, auf einen einprasseln, muss man Ruhe bewahren und versuchen, sich einen Überblick zu verschaffen. So bin ich selbst zum „BWS-Profi“ geworden, habe mir die besten Adressen herausgesucht und mich nicht mit einem „Das wird schon alles“ abspeisen lassen.

Die zweite Schwangerschaft – Wieder ein BWS-Baby?

Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom ist ein zu 10% vererbter und zu 90% spontan mutierter Gendefekt. Genau diese Zahlen kamen mir in den Kopf, als ich Ende 2017 einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielt und mich eigentlich ohne jede Sorge freuen wollte. Natürlich habe ich mich mental auf diesen Moment vorbereitet, habe über Jahre mit einer Therapeutin über all das gesprochen. Ich hätte ein weiteres BWS-Baby natürlich trotzdem behalten – unsere Hoffnung war dennoch, dass wir ein gesundes Kind bekommen. Als meine Gynäkologin ungefähr um die 30. Woche feststellte, dass der kleine Kerl in meinem Bauch relativ groß und schwer ist, überwies sie mich sicherheitshalber zur Pränataldiagnosik unserer lokalen Uniklinik. Dort traf ich auf den Chefarzt der Station, der mir glücklicherweise versicherte, dass es keine Anzeichen von BWS bei unserem Sohn gibt. Ihm war das Syndrom sehr bekannt und er konnte mir berichten, dass rund 80% der Frauen, die die Diagnose BWS erhalten, ihre Kinder abtreiben. Dieser Satz schockierte mich zutiefst und meine Gedanken kreisten direkt um Paula, die ein völlig normales Mädchen ist.

Ob man ein Kind mit einer Behinderung zur Welt bringt, ist natürlich die Entscheidung eines jeden Einzelnen. Wenn aber all die betroffenen Eltern wüssten, dass ein Leben mit BWS ein ganz normales Leben ist (mit ein paar Arztterminen im Jahr mehr), so würde doch sicherlich niemand sein Kind abtreiben. 

Ich habe den Chefarzt gebeten, meine Daten an betroffene Eltern weiterzugeben. Mir ist es wichtig, dass an dieser Stelle Mut gemacht wird.

Ein ganz normales Leben

Schlussendlich sind wir als Familie, als Eltern und auch als Menschen daran gewachsen. Natürlich habe ich mich oftmals gefragt, warum ausgerechnet mein Kind einen seltenen Gendefekt hat. Eine Antwort darauf habe ich nicht gefunden, aber ich glaube, dass uns all das zu starken, reflektierten und achtungsvollen Menschen gemacht hat. Denn: Wie wichtig Gesundheit ist, merkt man erst dann, wenn sie nicht sichergestellt ist. Abgesehen von unseren vermehrten Arztterminen, die sie absolut professionell über sich ergehen lässt, gibt es keine weiteren Einschränkungen in unserem Leben. Natürlich müssen wir ihr einseitiges Großwachstum im Auge behalten, um spätere Folgen einer schiefen Haltung zu vermeiden, aber auch das lässt sich gut managen. 

Mit drei Jahren wurde ihr Bauchwanddefekt (Nabelbruch) operiert, weil ihr Bauchnabel immer blau anlief. Auch dies war unproblematisch und ein „Routineeingriff“. Obwohl BWS ein Großwachstumssyndrom ist, ist unsere Tochter völlig durchschnittlich groß und schwer, sie ist sportlich extrem fit, konnte bereits mit elf Monaten laufen und klettert heute wie eine Weltmeisterin. Neben der Hemi gibt es bei einigen Kinder mit BWS eine stark vergrößerte Zunge, die durch eine Operation verkleinert werden oder durch Logopädie trainiert werden kann. Geistige Behinderungen bringt das Syndrom nicht mit sich.

Ich kann allen Eltern mit BWS-Kindern oder der Vermutung darauf nur den größten Mut zusprechen. Macht euch nicht verrückt! Sammelt hilfreiche Informationen, lasst euch von Google-Ergebnissen nicht schocken, sucht euch Betroffene und tauscht euch aus! Ein Leben mit BWS ist ein (fast) normales Leben. Unsere Tochter ist der beste Beweis dafür.

So könnt ihr Laura erreichen:
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Blog www.willkommen-bei-den-wues.de